
Subjektive Befindlichkeit als Referenzgröße im Feedbackprozess: Modellüberlegungen zu Schwingungsfähigkeit und Selbstregulation
Abstract
Dieser Beitrag entwickelt ein theoretisches Modell, in dem die subjektive Befindlichkeit als zentrale, schwingungsfähige Feedbackgröße im Regulationssystem des Körpers verstanden wird. Aufbauend auf Erkenntnissen der Biofeedbackforschung wird argumentiert, dass diese Größe eine kontinuierliche Rückmeldung über die Funktionalität autonomer Prozesse liefert. Einschränkungen der Schwingungsfähigkeit – etwa durch Depression, dauerhaft positiv verzerrte Rückmeldungen unter Rauschmitteleinfluss oder physiologisch positiv bewerteten Stress – führen zu einer einseitigen Signalgebung und damit zu einer verminderten Steuerungspräzision. Dies könnte langfristig zu Fehlanpassungen und erhöhter Krankheitsanfälligkeit beitragen. Das Modell eröffnet Perspektiven für präventive und therapeutische Ansätze, insbesondere durch Verfahren, die die Schwingungsfähigkeit wiederherstellen, wie etwa die Förderung von Selbstwirksamkeit.
Abstract (English)
This article presents a theoretical model in which subjective well-being is conceptualized as a central, oscillatory feedback variable within the body’s regulatory system. Drawing on findings from biofeedback research, it is argued that this variable provides continuous information on the functionality of autonomic processes. Limitations in its oscillatory capacity—such as those caused by depression, persistently positive feedback under the influence of psychoactive substances, or physiologically positive stress—result in one‑sided signaling and reduced regulatory precision. Over time, this may contribute to maladaptation and increased vulnerability to disease. The model suggests new avenues for preventive and therapeutic strategies, particularly through interventions aimed at restoring oscillatory capacity, such as enhancing self‑efficacy.
Einleitung: Erkenntnisse aus der Biofeedbackforschung legen nahe, dass autonome Körperprozesse indirekt beeinflussbar werden, sobald ihr Auftreten oder Ausbleiben mit einem emotionalen Zustand verknüpft wird – etwa mit Freude oder dem Fehlen von Freude (Lehrer & Gevirtz, 2014). Ein klassisches Beispiel ist die Regulation der Herzfrequenz: Eine Versuchsperson sieht auf einem Bildschirm eine Säule, ohne zu wissen, dass diese ihre Herzrate darstellt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Säule zwischen zwei Grenzwerten zu halten. Bewegt sich die Säule in Richtung des Zielkorridors, erlebt die Person ein positives Gefühl; entfernt sie sich, verschwindet dieses Gefühl.
Der Körper beginnt, Korrelationen zwischen dem erlebten Gefühl und den zugrunde liegenden physiologischen Zuständen herzustellen – nicht nur in Bezug auf die Herzrate, sondern auch auf andere Prozesse. Nach kurzer Zeit entwickelt der Organismus eine „Arbeitshypothese“: Wenn die Herzrate in einem bestimmten Bereich liegt, ist das emotionale Erleben am günstigsten. Diese Annahme wird zur Zielvorgabe, und der Körper beginnt, die Herzrate aktiv in diesem Bereich zu halten. Auf diese Weise wird ein eigentlich autonomer Prozess indirekt, aber willentlich steuerbar.
In der Praxis lässt sich dieser Mechanismus noch eleganter gestalten. So kann etwa ein beliebiges Video abgespielt werden, dessen Bildqualität sich in Abhängigkeit von physiologischen Zielwerten verändert: Erreicht der Körper die gewünschten Werte, wird das Bild scharf, farbintensiv und flüssig; weichen die Werte ab, erscheint es pixelig, entsättigt und ruckelig.
Erstes Zwischenfazit: Der Körper scheint bei der Feinanpassung seiner zahlreichen Prozesse eine Stell- oder Feedbackgröße zu berücksichtigen, die eng mit dem subjektiven Wohlbefinden verknüpft ist – ein Gefühlszustand, der als Rückmeldung dient.
Befindlichkeit als zentrale Feedbackgröße
Subjektive Befindlichkeit ist demnach nicht lediglich ein angenehmer oder unangenehmer Zustand, sondern eine zentrale Kenngröße im Regulationssystem des Körpers. Sie teilt dem Organismus fortlaufend mit, ob das, was er für sich tut, funktional oder dysfunktional ist. Ob dies die einzige relevante Feedbackgröße ist, sei dahingestellt – doch ihre Bedeutung ist offenkundig (Thayer et al., 2012).
Folgt man dieser Annahme, so werden nahezu ununterbrochen Korrelationen zwischen dem aktuellen Befindlichkeitszustand und den gleichzeitig ablaufenden autonomen physiologischen Prozessen gebildet. Stimmt die Theorie, müsste es prinzipiell möglich sein, diese Prozesse gezielt zu beeinflussen – was in der Biofeedbackpraxis bereits gelingt (Lehrer & Gevirtz, 2014). Ebenso ließe sich, zumindest im Tierversuch, ein ungesunder physiologischer Zustand häufiger hervorrufen, wenn er systematisch mit einem positiven Reiz gekoppelt wird (Schwartz & Andrasik, 2017).
Entscheidend ist dabei die „Schwingungsfähigkeit“ dieser Befindlichkeitsgröße: Ist sie ausreichend ausgeprägt, kann der Körper präzise Rückmeldungen auswerten und damit eine feine Steuerung seiner Prozesse ermöglichen. Ist sie hingegen eingeschränkt, gerät dieser Regelkreis ins Stocken – mit potenziell weitreichenden Folgen für die körperliche Gesundheit.
Depression als Einschränkung der Schwingungsfähigkeit
Ein Beispiel für eine solche Einschränkung ist der depressive Zustand. In einer Depression verharrt die Befindlichkeit in einem begrenzten Abschnitt des Spektrums auf der negativen Seite. Sie verliert ihre Beweglichkeit und verbleibt in einem engen, überwiegend negativen Bereich. Das hat zur Folge, dass der Körper auf die Vielzahl seiner autonomen Prozessveränderungen im Grunde nur noch eine einseitige Rückmeldung erhält.
Epidemiologische Untersuchungen, etwa auf Basis repräsentativer Gesundheitsdaten des Robert Koch-Instituts (Hapke et al., 2019; Jacobi et al., 2014), zeigen, dass depressive Zustände mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für zahlreiche körperliche Erkrankungen einhergehen. Auch die psychiatrische Epidemiologie der Charité (Baumeister & Hutter, 2012) berichtet von einer engen, wechselseitigen Beziehung zwischen Depression und metabolischen Erkrankungen, die sich gegenseitig verstärken können. Innerhalb des hier entwickelten theoretischen Rahmens ließe sich dies so deuten: Wenn die Rückmeldung, die normalerweise sowohl positive als auch negative Anteile enthält, auf einen ausschließlich negativen Pol reduziert ist, verliert sie ihre Funktion als Steuerungsgröße.
Analogie: Navigationsgerät
Dieser Zustand lässt sich mit einem Navigationsgerät vergleichen, das den Kontakt zu den Satelliten verloren hat. Hochwertige Geräte können noch eine Zeit lang navigieren, indem sie Trägheitssensoren und Raddrehzahlsensoren nutzen. Doch die entscheidende Stellgröße – das GPS-Signal – fehlt. Ohne diese präzise Rückmeldung wird die Steuerung zunehmend ungenau, bis es zu gravierenden Fehlentscheidungen kommt. Übertragen auf den Organismus bedeutet dies: Fehlt die schwingungsfähige Befindlichkeitsgröße, verliert der Körper einen wesentlichen Orientierungspunkt für die Feinabstimmung seiner Prozesse.
Weitere Beispiele: Rauschmittel und Stress
Ein gegenteiliges Szenario findet sich beim Konsum berauschender Substanzen. Hier bleibt die Rückmeldung übermäßig lange am oberen Ende des Spektrums. Während bei der Depression gewissermaßen ständig „nein“ gesagt wird, ertönt hier permanent ein „ja“. Auch dieser Zustand ist für eine präzise Steuerung ungeeignet, denn er liefert keine differenzierten Signale mehr (Koob & Volkow, 2016).
Ein weiteres Beispiel ist Stress. Unter Belastung werden Endorphine ausgeschüttet, die schmerzlindernd und stimmungsaufhellend wirken (Boecker et al., 2008). Dies kann dazu führen, dass die physiologische Rückmeldung trotz subjektiver Belastung im positiven Bereich liegt. In manchen Fällen suchen Menschen gezielt stressreiche Tätigkeiten auf, um sich von noch belastenderen Gedanken abzulenken – auch dies kann die Rückmeldung einseitig verzerren.
Mögliche gesundheitliche Konsequenzen und Ansatzpunkte
Die Beispiele Depression, Rauschmittel und Stress verdeutlichen, dass Störungen der Schwingungsfähigkeit in beide Richtungen problematisch sind. In allen Fällen verliert der Körper die Fähigkeit, zwischen funktionalen und dysfunktionalen Zuständen präzise zu unterscheiden. Die Rückmeldung wird einseitig, der Regelkreis unvollständig – mit potenziell weitreichenden Folgen für die Gesundheit.
Wenn die schwingungsfähige Befindlichkeitsgröße als Feedbacksignal ausfällt oder einseitig wird, sinkt die Präzision der inneren Regulation. Über längere Zeiträume kann dies zu einer erhöhten Anfälligkeit für körperliche Erkrankungen beitragen. Sollte sich dieser Mechanismus empirisch bestätigen, könnte er neue Ansatzpunkte für Prävention und Therapie eröffnen.
Verfahren, die gezielt darauf abzielen, die Schwingungsfähigkeit wiederherzustellen, wären von besonderem Interesse. Hierbei könnte das Konzept der Selbstwirksamkeit eine Schlüsselrolle spielen: Wer erlebt, dass er aktiv Einfluss auf seine inneren Zustände nehmen kann, stärkt nicht nur sein psychisches Gleichgewicht, sondern möglicherweise auch die Präzision der körperlichen Selbstregulation (Bandura, 1997).
Schluss
Subjektive Befindlichkeit ist mehr als ein Begleitphänomen des Erlebens – sie ist eine zentrale, schwingungsfähige Feedbackgröße im Regulationssystem des Körpers. Wird sie eingeschränkt, verliert der Organismus einen entscheidenden Steuerungsparameter. Das hier entwickelte Modell bietet eine theoretische Grundlage, um diese Zusammenhänge zu verstehen und gezielt zu beeinflussen.
Literaturverzeichnis
- Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman.
- Baumeister, H., & Hutter, N. (2012). Collaborative care for depression in medically ill patients. Current Opinion in Psychiatry, 25(5), 405–414. https://doi.org/
10.1097/ YCO.0b013e328356b4a5 - Boecker, H., Sprenger, T., Spilker, M. E., Henriksen, G., Koppenhoefer, M., Wagner, K. J., ... & Tolle, T. R. (2008). The runner’s high: Opioidergic mechanisms in the human brain. Cerebral Cortex, 18(11), 2523–2531. https://doi.org/
10.1093/ cercor/bhn013 - Hapke, U., Cohrdes, C., Nübel, J., & Jacobi, F. (2019). Psychische Gesundheit in Deutschland: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1-MH). Journal of Health Monitoring, 4(3), 3–15. Robert Koch-Institut. https://doi.org/
10.25646/5862 - Jacobi, F., Höfler, M., Strehle, J., Mack, S., Gerschler, A., Scholl, L., ... & Wittchen, H.-U. (2014). Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Der Nervenarzt, 85(1), 77–87. https://doi.org/
10.1007/ s00115-013-3961-y - Koob, G. F., & Volkow, N. D. (2016). Neurobiology of addiction: A neurocircuitry analysis. The Lancet Psychiatry, 3(8), 760–773. https://doi.org/
10.1016/S2215 -0366(16)00104-8 - Lehrer, P. M., & Gevirtz, R. (2014). Heart rate variability biofeedback: How and why does it work? Frontiers in Psychology, 5, 756. https://doi.org/
10.3389/ fpsyg.2014.00756 - Schwartz, M. S., & Andrasik, F. (2017). Biofeedback: A practitioner’s guide (4th ed.). New York: Guilford Press.
- Thayer, J. F., Åhs, F., Fredrikson, M., Sollers, J. J., & Wager, T. D. (2012). A meta-analysis of heart rate variability and neuroimaging studies: Implications for heart rate variability as a marker of stress and health. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 36(2), 747–756. https://doi.org/
10.1016/ j.neubiorev.2011. 11.009
Publikationsangaben
- Autor: Meisters, K.-H.
- APA‑Zitation: Meisters, K.-H. (2025, 31. August). Subjektive Befindlichkeit als Referenzgröße im Feedbackprozess: Modellüberlegungen zu Schwingungsfähigkeit und Selbstregulation. Abgerufen von https://k-meisters.de/texte/text-029.html
- Erstveröffentlichung: 31. August 2025
- Letzte Änderung am: 31. August 2025
- Lizenz & Rechte: © 2025 Meisters, K.-H. – Alle Rechte vorbehalten
- Kontakt für Nutzungsanfragen: licensing@k-meisters.de
Impressum | Datenschutz | Kontakt
Wichtiger Hinweis: Ich, Karl-Heinz Meisters, bin Diplom-Psychologe. Meine Leistungen beschränken sich auf Gespräche, die der persönlichen Weiterentwicklung und Klärung dienen. Ich bin weder Arzt, Heilpraktiker noch Psychotherapeut und übe keine Heilkunde im Sinne des § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz aus. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich keine Diagnosen stelle, keine Krankheiten behandle oder lindere und keine medizinischen Dienste erbringe. Meine Leistungen beinhalten keine Rechtsberatung und sind weder im juristischen Sinne noch als Rechtsdienstleistung zu verstehen. [Weitere Informationen]
Begriffsklärung „Mandat“: Im Rahmen meiner psychologischen Beratung bezeichnet der Begriff „Mandat“ einen formalen Beratungsauftrag. Dies gilt ebenso für abgeleitete Begriffe wie „Beratungsmandant“. Meine Leistungen beinhalten keine Rechtsberatung und sind weder im juristischen Sinne noch als Rechtsdienstleistung zu verstehen.
Bildnachweis: Die Bilder auf dieser Seite wurden mithilfe einer künstlichen Intelligenz generiert (Stable Diffusion via [Perchance.org](https://perchance.org/ai-text-to-image-generator)). Sie unterliegen der [Stability AI Community License](https://stability.ai/license). Die Nutzung erfolgt gemäß der darin festgelegten Bedingungen. Das Bild dient ausschließlich illustrativen Zwecken und stellt keine reale Person, Marken oder geschützten Werke dar. Ausnahmen finden Sie falls nötig unter diesem Absatz.
© 2025 Karl-Heinz Meisters – Alle Rechte vorbehalten. - Alle Inhalte, Texte und Konzepte sind urheberrechtlich geschützt. Das dargestellte Kommunikationskonzept wurde von mir als strukturiertes Werk veröffentlicht und unterliegt dem Urheberrecht. Eine Nutzung, Vervielfältigung oder Verwertung ist nur mit meiner schriftlichen Zustimmung zulässig.