Diskrete psychologische Beratung
Symbolbild: Zwei Gurus auf zwei Berggipfeln

Zwei Weise und ein Kind

Das Nadelör unserer Sprache und wie man ein Kamel hindurchbringt

Jemand sitzt dem Berater gegenüber und beginnt zu erzählen. Er beschreibt eine Situation, die ihn beschäftigt – in seinen eigenen Worten, mit den Bildern und Begriffen, die für ihn selbstverständlich sind.

Die Worte, die beim Berater ankommen, durchlaufen denselben inneren Vorgang wie bei jedem Menschen: Sie werden ins Nicht‑Sprachliche übersetzt. Nur so kann unsere Psyche sie verarbeiten. Das Ergebnis ist keine Abfolge von Worten mehr, sondern ein inneres Gefüge – ein Bild, eine Struktur, ein Eindruck.

In diesem nicht‑sprachlichen Raum erfolgt die eigentliche Verarbeitung, das was, wenn wir Fetzen davon erhaschen, als Denken empfinden. Am Ende liegt ein Ergebnis vor, das noch nicht in Sprache gefasst ist – ein inneres Gefüge, das deutlich wahrnehmbar ist.

Aus diesem Gefüge entsteht anschließend wieder Sprache. Nicht, um es „abzubilden“ – das kann Sprache nicht –, sondern um es so zu gestalten, dass es dem Gegenüber mitgeteilt werden kann, in ihm etwas auslöst.

Hier beginnt die eigentliche Kunst: das Gespür, welche Form, welcher Ton, welche Metapher im Gegenüber Resonanz erzeugt. Mit einem Kampfpiloten spricht man anders als mit einem Waldbesitzer – nicht, weil einer wichtiger wäre als der andere, sondern weil beide in völlig unterschiedlichen inneren Landschaften zu Hause sind. Zwei Welten, derselbe psychologische Kern – und die Aufgabe, ihn in der Sprache des jeweiligen Gegenübers zum Leben zu erwecken.

Wir können einen Duft innerlich repräsentieren – aber wir können ihn nicht in Sprache „abbilden“. Wenn es dennoch gelingt, dass Worte einen Duft hervorrufen, dann nicht, weil Sprache duftet, sondern weil sie auf etwas verweist, das im Inneren des Empfängers bereits nicht‑sprachlich gespeichert ist.

Blumig, mit einer leichten Zitrusnote, ein Hauch Moschus und Leder – diese Beschreibung funktioniert nur, wenn der andere weiß, wie Zitrone, Moschus oder feines Leder riechen. Die Worte sind nicht der Duft. Sie sind der Schlüssel zu einer Erinnerung, die jenseits der Sprache liegt.

Jeder, der schon einmal eine Duftbeschreibung gelesen und daraufhin bestellt hat, kennt diesen Effekt: Die Entscheidung fiel nicht aufgrund der Worte selbst, sondern aufgrund der inneren Bilder und Erinnerungen, die sie ausgelöst haben.

In der Beratung ist es ebenso: Wir sprechen, um innere Bilder zu erzeugen. Die Psyche übersetzt unsere Worte in ihre eigene Sprache – und nur wenn diese Übersetzung gelingt, kann das Gesagte wirken. Sprache endet immer nicht‑sprachlich in uns – gerade darin liegt ihre Kraft.

Damit Sprache in der Beratung wirkt, muss sie mehr sein als korrekt gewählte Worte. Sie muss so beschaffen sein, dass sie im Inneren des Gegenübers das auslöst, was gemeint ist – als Bild, als Gefühl, als innere Szene. Gelingt diese Übersetzung ins Nicht‑Sprachliche nicht, bleibt die Botschaft leer.

Darum wählt der Berater eine Sprache, die leicht in Bilder zu übertragen ist: eine Metapher aus dem vertrauten Erfahrungsbereich des Gastes, eine kurze Geschichte, eine Emotion, oder auch einmal eine nonverbale Geste. Alles, was hilft, das Gemeinte im Inneren des anderen lebendig werden zu lassen, ist Teil dieser Kunst. Nur dann hat Sprache ihren Zweck erfüllt.

Es gibt die Theorie, dass Sprache eine Grenze unserer Erkenntnis darstellt. Was wir nicht in Sprache fassen können, so heißt es, können wir auch nicht klar denken – oder zumindest nicht bewusst denken. Ich neige dazu, dem zuzustimmen, allerdings in einem erweiterten Sinn: Für mich gilt das nicht nur für gesprochene oder geschriebene Worte, sondern für jede mögliche Sprache.

Denn auch unsere innere Sprache – die Bilder, Empfindungen, räumlichen Anordnungen, Gerüche, Körpergefühle – ist eine Form von Sprache. Vielleicht sogar eine, die mehr Möglichkeiten hat als jede äußere Ausdrucksform. Worte, Schrift, Tanz, Musik, Malerei – all das sind Sprachen, aber sie sind immer schon eine Übersetzung aus diesem inneren, reicheren Raum.

Vielleicht ist das der Grund, warum wir manchmal einer Intuition folgen, obwohl sie sich nicht in Worte fassen lässt. Die innere Sprache hat uns längst ein vollständiges Bild, eine klare Tendenz, ein „Wissen“ gegeben – nur passt es nicht in die engen Bahnen der äußeren Sprache. Wir spüren es, bevor wir es sagen können.

Jede Sprache – ob verbal, visuell, musikalisch oder körperlich – ist ein Filter. Sie macht etwas sichtbar, aber sie blendet auch anderes aus. Darum sind Geschichten, Metaphern, Musik oder Bilder oft näher an einer Wahrheit, die wir „fühlen“, als eine rein sachliche Beschreibung. Sie docken an dieser inneren Sprache an, statt sie zu ersetzen. Sie lassen Raum für das, was sich nicht vollständig übersetzen lässt. – Damit öffnen sie einen Übertragungsweg jenseits der Sprache – jenes Feld, das wir nur andeuten können, wenn wir vom tieferen Sinn oder vom Geist eines Textes sprechen.

Ein Bild, das mir dazu immer wieder in den Sinn kommt, ist folgendes. Stellen Sie sich vor: Zwei unglaublich weise Menschen, die auf verschiedenen Berggipfeln Hof halten. Sie wollen sich austauschen – doch nur ein kleines Kind kennt den Weg von einem Gipfel zum anderen. Also schicken sie es hin und her mit ihren Botschaften.

Das Kind hat wenig Ahnung von den tiefen Weisheiten, die es überbringen soll. Darum muss jeder der beiden Gipfeldenker dem Kind etwas sagen, das es selbst verstehen kann – sonst würde es die Botschaft unterwegs vergessen. Die beiden Weisen wissen: Das Kind wird sich nur merken, was es selbst spannend findet. Also kleiden sie ihre Botschaften in kleine Geschichten, Bilder und Vergleiche, die das Kind versteht. Statt von „Quanteninterferenz“ zu sprechen, erzählen sie vielleicht von einem geheimnisvollen Wesen, das sich mal in eine feste Gestalt verwandelt und mal in eine Welle aus Licht und Bewegung. So trägt das Kind nicht nur Worte, sondern eine lebendige Szene hinüber – und der Kollege auf dem Nachbargipfel kann daraus die ganze Weisheit zurückgewinnen.

Unsere Sprache ist dieses Kind: Sie läuft zwischen den inneren Genies zweier Gesprächspartner hin und her. Nur wenn wir sie richtig nutzen, erschaffen wir im anderen das Bild, das wir selbst sehen.

Diese Form des „Geschichtenerzählens“ stellt die Beratung in eine Tradition, die so alt ist wie der Mensch selbst. Schon die alten Geschichten, Mythen, Fabeln – und das, was wir heute Märchen nennen – wollten etwas Wesentliches transportieren: eine Erfahrung, eine Erkenntnis, eine Wahrheit. Sie taten dies auf die einzig mögliche Weise: indem sie Bilder, Szenen und Gefühle im Inneren der Zuhörer entstehen ließen.

Genau so funktioniert es heute noch. Ob am Feuer, im Dorf, im Theater oder im Beratungsraum – die Sprache, die wirkt, ist immer die, die im Inneren des anderen lebendig wird.

Vermutlich wird von diesem Text vor allem das Bild der beiden Gurus mit „Gebietsschutz“ im Gedächtnis bleiben, wenn Sie später davon erzählen. Und dieses Bild wird Ihnen – wenn Sie den Inhalt für relevant halten – die Brücke zu den dahinterliegenden Gedanken schlagen. Wenn das so ist, dann habe ich mit dieser kleinen Passage in Ihnen genau jenes innere Bild erzeugt, das auch ich gesehen habe.

Veröffentlichungen Beratung Kontaktoptionen Startseite

Publikationsangaben

  • Autor: Meisters, K.-H.
  • APA‑Zitation: Meisters, K.-H. (2025, 10. September). Zwei Weise und ein Kind. Abgerufen von https://k-meisters.de/texte/text-077.html
  • Erstveröffentlichung: 10. September 2025
  • Letzte Änderung am: 22. September 2025
  • Lizenz & Rechte: © 2025 Meisters, K.-H. – Alle Rechte vorbehalten
  • Kontakt für Nutzungsanfragen: licensing@k-meisters.de

Impressum | Datenschutz | Kontakt

Wichtiger Hinweis: Ich, Karl-Heinz Meisters, bin Diplom-Psychologe. Meine Leistungen beschränken sich auf Gespräche, die der persönlichen Weiterentwicklung und Klärung dienen. Ich bin weder Arzt, Heilpraktiker noch Psychotherapeut und übe keine Heilkunde im Sinne des § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz aus. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich keine Diagnosen stelle, keine Krankheiten behandle oder lindere und keine medizinischen Dienste erbringe. Meine Leistungen beinhalten keine Rechtsberatung und sind weder im juristischen Sinne noch als Rechtsdienstleistung zu verstehen. [Weitere Informationen]

Begriffsklärung „Mandat“: Im Rahmen meiner psychologischen Beratung bezeichnet der Begriff „Mandat“ einen formalen Beratungsauftrag. Dies gilt ebenso für abgeleitete Begriffe wie „Beratungsmandant“. Meine Leistungen beinhalten keine Rechtsberatung und sind weder im juristischen Sinne noch als Rechtsdienstleistung zu verstehen.

Bildnachweis: Die Bilder auf dieser Seite wurden mithilfe einer künstlichen Intelligenz generiert (Stable Diffusion via [Perchance.org](https://perchance.org/ai-text-to-image-generator)). Sie unterliegen der [Stability AI Community License](https://stability.ai/license). Die Nutzung erfolgt gemäß der darin festgelegten Bedingungen. Das Bild dient ausschließlich illustrativen Zwecken und stellt keine reale Person, Marken oder geschützten Werke dar. Ausnahmen finden Sie falls nötig unter diesem Absatz.

© 2025 Karl-Heinz Meisters – Alle Rechte vorbehalten. - Alle Inhalte, Texte und Konzepte sind urheberrechtlich geschützt. Das dargestellte Kommunikationskonzept wurde von mir als strukturiertes Werk veröffentlicht und unterliegt dem Urheberrecht. Eine Nutzung, Vervielfältigung oder Verwertung ist nur mit meiner schriftlichen Zustimmung zulässig.